Ein Film von Christiane Büchner
FAMILY BUSINESS begleitet zwei Familien – eine aus Deutschland und eine aus Polen – bei denen sich einschneidende Veränderungen ankündigen.
In Deutschland können zwei Töchter ihre Mutter nicht länger pflegen. In Polen verlässt eine Mutter ihre Familie, um für die fremde Frau zu sorgen.
Die 88-jährige Anne regiert ihr Leben in Bochum vom Sofa aus. Vor kurzem ist ihr Mann gestorben. Er hatte im Alltag gekonnt überspielt, was nun für die Töchter erschreckend deutlich wird: Anne wird dement. Sie kann nicht mehr alleine leben.
Jowitas Familie wohnt im polnischen Lubin seit Jahren in der Baustelle ihres Hauses. Die Küche fehlt, die Schlafzimmer sind noch im Rohbau. Die 13-jährige Tochter wartet sehnsüchtig auf ein eigenes Zimmer. Es fehlt an Geld. Jowita braucht dringend Arbeit.
Indem Jowita als Betreuerin bei Anne einzieht, übernimmt sie die Aufgabe, die Annes berufstätige Töchter nicht leisten können: Rund um die Uhr für die Mutter da zu sein. Aber die alte Dame verliert zunehmend den Bezug zur Realität. Sie kann Jowita in ihrem Leben nicht einordnen. Die beiden Frauen verstehen sich nicht gut. Sie mögen sich auch nicht besonders. Die Tage werden zäh und lang für Jowita, die sich nun weit weg von der eigenen Familie in den Routinen einer alten Frau wiederfindet.
FAMILY BUSINESS portraitiert die beiden Familien, die sich rund um das Wohl von Anne organisieren. Sie tauschen Zeit gegen Lohn und machen so Familie zu einem Arbeitsplatz. Ohne simple Zuschreibungen folgt der Film dieser Spur der Ökonomie tief in den Alltag dieser Familien hinein. Wo gibt es Gewinn? Worin besteht der Verlust? Eine Bilanz, die immer mehr von uns früher oder später werden ziehen müssen.
Regiestatement
Wie Familie in den sich verändernden Gesellschaften in Ost und West funktioniert, scheint die große Frage zu sein, die nach jedem Filmprojekt, das ich abschließe, für mich unbeantwortet bleibt. Aufgewachsen in einem Land mit einem funktionierenden Sozialsystem war ich überrascht wie schlau, effizient und rücksichtslos Familien agieren können, wenn der Staat sich raushält.
Sicherheit und Unabhängigkeit, Unterwerfung und Freiheit sind die großen Themen, die im alltäglichen Miteinander der Familien verhandelt werden. Auch in Deutschland zieht sich der Staat immer mehr aus teuren Verpflichtungen zurück und familiäre Werte stehen in der öffentlichen Diskussion. Immer mehr Verantwortung wird von der sozialen Marktwirtschaft an die Familien zurückgegeben.
Mich interessiert das Thema der polnischen Haushaltshilfen in Deutschland, weil es ein Massenphänomen ist. Fast jeder in Deutschland kennt Familien, die eine Polin beschäftigen. Jeder in Polen kennt in seinem direkten Umfeld Frauen (selten auch Männer), die in deutschen Familien arbeiten. Und beide Seiten wissen dazu viele Geschichten zu erzählen.
Geschichten von großer Nähe und langer Abwesenheit, von Überforderung und Emanzipation, von zu fettem Essen, von Liebe, Schuld, Dankbarkeit und vom Tod. Und die meisten Geschichten tragen die tiefe Verwunderung über das Familienleben der anderen in sich. Tägliche Abläufe, die Besonderheit des Sprechens, von Berührungen, der familiäre Humor und der geteilte Geschmack sind die Bausteine körperwarmer Normalität.
Wer als Kind in der Familie eines Freundes zu Gast war mag sich vielleicht an die Intensität der Wahrnehmung von Kleinigkeiten erinnern, die so anders waren als in der eigenen Familie.
In diese gewachsenen Normalitäten bricht nun in dieser Situation die Wirtschaftlichkeit fühlbar ein. Anne und Jowita treffen aufeinander. Für Jowita ist Annes Wohnung ein Arbeitsplatz. Für Anne ist Jowita mal eine Art Gast, mal eine Hausangestellte. Ihre Rolle ist für sie verwirrend. Wie soll sie sich zu ihr verhalten? Annes Töchter sind beide berufstätig. Sie geben den täglichen Teil der Pflege an Jowita ab und wissen bald viel weniger vom Alltag ihrer Mutter als Jowita.
Ähnlich wie in meinem Film „pereSTROIKA – umBAU einer Wohnung“, der vom Verkauf einer Kommunalwohnung in St. Petersburg erzählt, folgt auch „Family Business“ der Spur der ökonomischen Entscheidungen in ihre intimsten Familienbeziehungen hinein. Ich sehe darin einen Mechanismus der gesellschaftlichen Veränderung in Deutschland und in Polen. Der Druck auf die Familien ist größer geworden. Sie müssen flexibel auf den Arbeitsmarkt reagieren und gleichzeitig so viel soziale Sicherheit spenden wie schon lange nicht mehr. „Family Business“ ist bislang mein persönlichster Film.
Recherche und Protagonisten
Die Familie Pacht steht für eine typische familiäre Situation in Deutschland. Als die 88-jährige Anne Pacht verwitwet, gerät ihre Lebenssituation innerhalb von kurzer Zeit ins Wanken. Ihre Töchter Ulrike und Birgit müssen von einem Tag auf den anderen den Vater ersetzen. Aber sie sind beide berufstätig, haben jede eine Familie mit Kindern, um die sie sich noch kümmern müssen. Sie können den langsamen Tagesablauf an der Seite der Mutter nicht rund um die Uhr begleiten. Nicht, wenn Anne weiter in ihrer Wohnung bleiben soll - und das will sie.
Nur die wenigsten Familien sprechen über diese Fragen zu einem Zeitpunkt, an dem alle Beteiligten sich gleichberechtigt in die Entscheidung einbringen könnten. Meistens sind Mutter oder Vater bereits pflegebedürftig, wenn ihre Kinder darüber nachdenken, was für die Eltern jetzt das Richtige ist. Ins Pflegeheim oder zuhause bleiben? Der Entscheidung sind oft enge Grenzen gesetzt: der finanzielle Rahmen, die räumliche Entfernung, zeitlicher Spielraum und natürlich die Belastbarkeit der Beziehung spielen eine Rolle bei der Lösung, die man sucht. Insgesamt gibt es bis zu 200.000* Familien in Deutschland, die sich für eine Betreuerin aus Osteuropa entschieden haben, die in den Haushalt einzieht. Oft ist aufgrund plötzlicher Ereignisse, wie ein Sturz, ein Todesfall, o.ä., der Zeitdruck so hoch, dass diese bereits innerhalb weniger Tage ihre Arbeit antreten soll.
Die Familie Sobolak steht ebenfalls für eine jüngere Generation polnischer Familien. Sie lebt zwar nicht mehr als Großfamilie, aber sie vertritt immer noch deren Werte. Als Familie halten sie zusammen, über die Grenzen der Generationen hinweg. Ihr Haus haben sie gebaut, ohne einen Kredit aufzunehmen. Sie wohnen lieber über Jahre in einer Baustelle, als sich von einem Bankkredit abhängig zu machen und Gefahr zu laufen alles wieder zu verlieren. Ich habe in der Nachbarschaft der Sobolaks viele Häuser gesehen, die ebenfalls über einen langen Zeitraum gebaut werden. Das Besondere an diesen Häusern ist der ausgeprägte Gestaltungswille, der in der Architektur sichtbar wird. Die Familien arbeiten gemeinsam an der Verwirklichung eines Traums: Ein großes Haus, das ihre Individualität zeigt. Für diesen Traum nehmen die Familien große Belastungen auf sich. Sie leben über lange Zeiträume getrennt und lernen über SMS und Skype ihr Familienleben aufrecht zu halten, während sie anderswo Nähe und Fürsorge anbieten.
Nur 10% der deutschen Familien beschäftigen ihre Betreuerinnen legal. Um den Aspekt Schwarzarbeit zu umgehen, habe ich Jowita Sobolak über die Agentur CareWork (www.24stundenbetreut.com) gefunden. Die deutsch-polnische Agentur, die mir während meiner Recherche empfohlen wurde, konnte sich auf das Abenteuer meines Films ergebnisoffen einlassen. Mit ihrer Hilfe ist mir etwas gelungen, was im Dokumentarfilm schwierig zu zeigen ist: Ich konnte beide Familien bereits zu einem Zeitpunkt kennenlernen und drehen, an dem sie sich noch nicht begegnet waren. Ich wollte zwei Familien begleiten, die vorher noch keine Erfahrung mit dieser Art von Familienarbeit gemacht haben. Die Agentur hat dabei sichergestellt, dass die Art der Betreuung, die Anne brauchte, von Jowita auch geleistet werden konnte. Das war sehr wichtig, denn ein Scheitern des Arbeitsverhältnisses sollte durch mein Filmprojekt auf keinen Fall provoziert werden. Gedreht wurde insgesamt über ein Jahr in Bochum und in der Nähe von Lubin. Ich wollte beide Seiten in ihrer besonderen und manchmal auch untypischen Situation zeigen. Wichtig war dafür die Zweisprachigkeit. Jowita sollte auch in der deutschen Familie im Film auf Polnisch sprechen können. Sie sollte erzählen können wie sie die Situation reflektiert, ohne dabei auf Deutsch radebrechen zu müssen. Dafür habe ich selbst ein wenig Polnisch gelernt und mich mit einem einfühlsamen deutsch-polnischen Team umgeben.
Statistisches Bundesamt: "Gesundheit in Deutschland", Robert-Koch-Institut, November 2015, S. 324 ff.
"...Hinzu kommt ein gesellschaftlicher Wandel, im Zuge dessen sich aus unterschiedlichen Gründen immer weniger Angehörige in der Lage sehen, die Betreuung schwerst pflegebedürftiger Personen zu übernehmen: Die räumliche Distanz zwischen Angehörigen, steigende Erwerbsquoten von Frauen sowie auch ein Abschmelzen eher »pflegebereiter« traditioneller Milieus wirken sich hemmend auf die Realisierungschancen familiärer Pflege aus. Dies ist bereits heute ein Grund dafür, dass eingewanderte Pflegekräfte informell für die Versorgung Pflegebedürftiger engagiert und in häusliche Pflegearrangements eingebunden werden (Care Migration). Ihre Zahl wird in Deutschland auf etwa 100.000 bis 200.000 Personen geschätzt. Sie gewährleisten vergleichsweise kostengünstig eine umfassende, häufig 24-stündige Betreuung, mit der ein Heimaufenthalt vermieden oder verzögert werden kann."
„Prädikat besonders wertvoll“ der Deutschen Film- und Medienbewertung. FBW / Jury-Begründung:
Christiane Büchners Dokumentarfilm FAMILY BUSINESS ist ohne Zweifel eines jener Werke, die den Nerv der Zeit auf den Kopf treffen. Ihre Auseinandersetzung mit dem privat organisierten Pflegesystem und den vielen Osteuropäerinnen, die darin tätig sind, wird in den nächsten Jahren an Relevanz noch deutlich gewinnen. Denn ohne die Pflegerinnen aus Polen, der Ukraine und anderen Staaten Osteuropas sähe es um die Versorgung unserer Senioren in nächster Zeit schlimm aus. Die Langzeitbeobachtung schildert das Verhältnis zwischen der Polin Jowita und ihrer betagten Klientin Anne, deren Demenzerkrankung sich im Laufe der Zeit immer mehr bemerkbar macht.
Am Anfang steht Jowitas Ausbildung zur Pflegehelferin, die die Mutter einer pubertierenden Tochter unternommen hat, weil das Haus der Familie aufgrund des engen finanziellen Rahmens einfach nicht fertig werden will. Und so tritt sie irgendwann den schweren Weg nach Bochum an, wo sie mit Bangen und gemischten Gefühlen zwischen Nervosität und Heimweh ein Zimmer im Haus Annes bezieht, um dort zwei Monaten lang die alte Dame mit der „spitzen Zunge“ zu betreuen. Dann folgt die Ablösung durch eine ebenfalls polnische Kollegin, mit der sie sich fortan den Job teilt. Doch das Hin und Her zwischen Polen und Deutschland, die beiden vollkommen verschiedenen Leben, die sie nun gezwungenermaßen führt und das nicht ganz einfache Verhältnis zu Anne, machen den Job zu einer schwierigen Aufgabe.
Voller Diskretion und mit bemerkenswerter Konsequenz folgt Christiane Büchners Film seiner Protagonistin und zeigt sie in ihren unterschiedlichen Welten. Und selbst das eine Mal, in dem der Film von seiner künstlerischen Strategie abweicht und eine Weile das Zusammenleben von Jowitas Kollegin Anya und Anne zeigt, erweist sich diese Entscheidung als goldrichtig, denn nur so werden die unterschiedlichen Herangehensweisen und auch Jowitas Unerfahrenheit sowie die Tatsache deutlich, dass sie als erste Pflegerin der Demenzkranken einen schweren Stand hat. Als gelungen erweist sich zudem auch, dass die Regisseurin die eigentliche Pflegearbeit niemals zeigt, sondern sich stattdessen völlig auf die rein psychologischen und auch wirtschaftlichen Aspekte sowie deren Auswirkungen auf das Beziehungsgeflecht Jowitas und Annes konzentriert. Auf diese Weise entsteht eine intime, aber niemals voyeuristische Betrachtung über eine Zwangsgemeinschaft, wie wir ihr in Zukunft noch häufiger begegnen werden. Ein sehenswerter Film.
Kamera
Justyna Feicht, Thomas Plenert
Montage
Henk Drees, Stefan Oliveira-Pita
Dramaturgie
Herbert Schwarze
Ton
Claas Benjamin Berger, Kamil Radziszewski, Kasia Szczerba
Musik
Bernd „Ben“ Lauber
zusätzlicher Ton
Rony Müller, Micha? Robaczewski, Siddho Varza
Postproduktion Bild
FARBKULT, Erhard Giesen
VF
Peter Anlauf, Joshua Seckerdieck
Colorist
Felix Hüsken
Sound Design
Claas Benjamin Berger
Mischung
SoundVision, Thilo Busch
Posaunisten
Florian Juncker, Guntram Halder, Fabian Schmidt, Christophe Schweizer, Amraser Messe
Komponist
Florian Bramböck
Interpreten
Amraser Bläser
mit freundlicher Genehmigung vom Musikverlag Pro Music
Protagonisten-Recherche:
Ursula Eitner
Kamera-Assistenz
Julian Kazmierczak
Schnitt-Assistenz
Mirek Balonis, Jakob Jendryka, Jonas Thoma, Christopher Tworuschka
Technical Wizard
Robert O'Kane
Animation
Christiane Büchner, Zeter und Mordio
Grafik
Arne Thaysen, Goldhafen
Homepage
Webonom
Super 8 Filme
Rolf Pacht
Sprachunterricht
Katarzyna Wrzesniok
Übersetzung
Fernando Santos-Castellar, Josefine Bingemer
Untertitel
Katja Büssemeier, Michael Hale
Fachberatung
Werner Tigges und Michael Gomola, 24stundenbetreut.com
Filmgeschäftsführung
Lies Schumandl
Produktionsleitung MDR
Evelyn Wenzel
Produktion
Ewa Borowski
Line Producer Polen
Mariusz Włodarski, Agnieszka Wasiak
Redaktion
Beate Schönfeldt, MDR
Produzent
Tobias Büchner
Kinostart | 28. Januar 2016 |
FSK | 0 |
Runtime | 89 Min. |
TechSpecs | Bildformat:1:1.85; Tonformat:Dolby Digital 5.1 |
DVD-Release | 13. Januar 2017 |
Verpackung | Softbox |
Sprache | Deutsch, Polnisch, Audiodeskription |
Untertitel | Deutsch |
Extras | Lubin, Polen: Vorbereitung auf Deutschland, XX min Die Lust am Bauen, XX min Die Perspektive der Agentur, XX min Bochum, Deutschland: Ein Tag in der Tagespflege, 6:54 min Anne und ihr Mann in der UdSSR 1983, XX min Anne über das Sterben, XX min Fragen, die sich Angehörige stellen / 5 kurze Videos 1. Wir gehen uns auf die Nerven. Wie lösen wir Konflikte? 2. Kann meine Mutter noch alleine bleiben? 3. Leben wir noch in derselben Zeit? 4. Was bedeutet ihr ihr Zuhause? 5. Schaffe ich es die richtigen Entscheidungen zu treffen? |
Laufzeit Hauptfilm | 89 Min. |
Label | Good Movies |
Distributor | Indigo |
BestellNr | DV 131698 |
EAN | 4015698007534 |
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